
Führen mit Zielen ist überholt
Ziele. Ein Wort, das in den Führungsetagen so verheißungsvoll klingt. Sie sind die vermeintlichen Leitsterne der Unternehmensführung, der Anker in stürmischen Zeiten. Doch ist das Führen mit Zielen in unserer dynamischen Welt noch zeitgemäß? Mit dieser Frage müssen wir uns heute auseinandersetzen, denn hinter der scheinbar klaren und einfachen Logik der Zielsetzung verbirgt sich eine ambivalente Realität.
Ziele haben durchaus ihren Platz. Sie bündeln Energien, schaffen Orientierung und sorgen für Klarheit. Es ist beruhigend, zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Aber genau hier beginnt der Knackpunkt. Denn was, wenn sich die Bedingungen während der Reise grundlegend ändern? Was, wenn das Ziel zur Fessel wird, die Innovation erstickt, den Blick verengt und die Sinnhaftigkeit des Handelns zerstört?
Ziele in der neuen Dynamik: Ein überholtes Paradigma
Die Unternehmenswelt hat sich verändert. Planbarkeit? Ein Relikt vergangener Jahrzehnte. Märkte sind volatil, Prognosen ungenau und die Komplexität steigt. Ziele, die einst als strategisches Steuerungsinstrument gefeiert wurden, geraten immer mehr ins Abseits. Unternehmen setzen sich Ziele – nur um festzustellen, dass sie sie aufgrund sich verändernder Umstände nicht erreichen können. Warum also diese Rituale fortsetzen?
Noch schlimmer: Die Bürokratie, die mit Zielsystemen einhergeht, lähmt die Organisation. Zeit, die für das Setzen, Nachverfolgen und Bewerten von Zielen aufgebracht wird, könnte viel besser in die tatsächliche Arbeit und in die Lösung von Kundenproblemen investiert werden. Doch stattdessen drehen wir uns im Hamsterrad der Zielbürokratie – mit fragwürdigem Nutzen.
Wenn Ziele den Sinn zerstören
Das größte Problem jedoch liegt tiefer: in der Sinnentleerung. Sobald Ziele eingeführt werden, verschiebt sich die Mittel-Zweck-Relation. Die eigentliche Aufgabe – beispielsweise dem Kunden zu helfen – tritt in den Hintergrund. Stattdessen dreht sich alles darum, das Ziel zu erreichen. Das Warum verschwindet. Die intrinsische Motivation wird durch extrinsische ersetzt.
Besonders dramatisch wird es, wenn Prämien an Ziele gekoppelt werden. Dies verstärkt die Zielfixierung und lässt Sinnhaftigkeit und Eigenverantwortung endgültig verschwinden. Der Mensch handelt dann nicht mehr aus Überzeugung, sondern aus Kalkül. Und was passiert mit der Gegenwart? Sie wird abgewertet. Wir leben nicht mehr im Hier und Jetzt, sondern in einer fiktiven Zukunft, in der wir unser Ziel erreichen müssen – koste es, was es wolle.
Ziele als Feinde des Kunden
In einer Zeit, in der Kundenorientierung als heilige Kuh gilt, erscheint es geradezu paradox, dass Ziele oft strukturell kundenfeindlich sind. Denn anstatt den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen, richtet sich alles nach der Zielerreichung. Es geht nicht darum, das bestmögliche Ergebnis zu erzielen, sondern das definierte Ziel abzuhaken. Die Bedürfnisse der Kunden werden zur Nebensache.
Noch gravierender ist der kurzfristige Aktionismus, den Zielsysteme fördern. Das große Ganze, die langfristige Perspektive, bleibt auf der Strecke. Stattdessen dominieren schnelle Erfolge und Zahlenkosmetik – oft auf Kosten nachhaltiger Entwicklungen.
Diplomatisches Zieldiktat und interne Konkurrenz
Und was ist mit den viel gepriesenen Zielvereinbarungen mit Mitarbeitern? Hier zeigt sich die wahre Machtstruktur in Unternehmen. Diese Vereinbarungen sind selten echte Verhandlungen. In Wahrheit handelt es sich um Zieldiktate, die mit einem Lächeln diplomatisch verkauft werden. Mitarbeiter werden zu Erfüllungsgehilfen degradiert, ihre Autonomie und ihr Sachverstand untergraben.
Noch schlimmer ist die Fragmentierung, die Ziele innerhalb eines Unternehmens erzeugen können. Individuelle Ziele machen aus Kollegen Konkurrenten. Kooperation wird zur Ausnahme, Eigeninteresse zur Regel. Die Organisation als Ganzes verliert ihre Stärke – und mit ihr ihre Zukunftsfähigkeit.
Ein Plädoyer für Ambivalenz
Ist es nicht an der Zeit, das Führen mit Zielen kritisch zu hinterfragen? Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass Ziele ambivalent bleiben werden. Anstatt ihnen blind zu folgen, sollten wir die negativen Effekte minimieren und uns auf die positiven Aspekte konzentrieren.
Ziele dürfen nicht den Sinn des Handelns zerstören. Sie sollten Orientierung bieten, ohne den Blick zu verengen. Sie dürfen keine Instrumente des Zwangs oder der Kontrolle sein. Vielmehr müssen sie Raum für Flexibilität, Innovation und Sinnhaftigkeit lassen.
Führen mit Zielen mag bequem erscheinen, doch die heutige Unternehmenswelt verlangt nach mehr. Es ist Zeit, den Mythos der Zielsetzung zu entzaubern – und eine Führungskultur zu schaffen, die auf Vertrauen, Sinn und langfristigem Denken basiert. Nur so können Unternehmen und ihre Mitarbeiter in einer dynamischen Welt erfolgreich bestehen.