
Leiden ist leichter als Handeln
Wir leben in einem Zeitalter der gekonnten Selbsttäuschung. Die Menschen leiden. Und sie leiden gut. Sie klagen über ihren Chef, über ihre Partnerschaft, über die Politik, über das System, über die Arbeitsbedingungen, das Gehalt, den Stress, die Digitalisierung, das Leben. Sie gehen montags mit Magenschmerzen ins Büro, leben in Beziehungen, die längst zu Co-Existenzen verkommen sind, und tragen Lasten, die niemand ihnen aufgebürdet hat – außer sie selbst.
Was tun sie dagegen? Nichts. Oder schlimmer: Sie tun so, als könnten sie nichts tun. Denn Leiden ist leichter als Handeln.
Leiden ist bequem – Handeln ist risikoreich
Warum? Weil Leiden bequem ist. Es kostet nichts – außer sich selbst. Wer leidet, hat immer einen Schuldigen. Das ist praktisch. Verantwortung? Fehlanzeige. Der Chef ist eben so. Der Partner wird sich nie ändern. Die Politik hört ja doch nicht zu. Wer leidet, muss nicht entscheiden. Wer leidet, darf sich beklagen, darf sich moralisch überlegen fühlen – das Leiden wird zum Freibrief für Untätigkeit.
Handeln dagegen? Handeln heißt, die Opferrolle zu verlassen. Es heißt, sich selbst ins Spiel zu bringen – und sich vielleicht auch unbeliebt zu machen. Handeln bedeutet: Konsequenzen riskieren. Ein Gespräch führen, das unbequem ist. Grenzen setzen. Den Arbeitsplatz wechseln. Den Konflikt suchen, bevor er eskaliert. Aufstehen, wenn alle sitzenbleiben. Das ist anstrengend. Das macht Angst. Denn wer handelt, kann scheitern. Wer leidet, hat immerhin seine Ruhe – die trügerische Ruhe des Stillstands.
Bemerkenswert ist dabei die Paradoxie: Wir fürchten das kleine Leiden des Handelns – und wählen damit das große Leiden der Daueropferrolle. Anstatt jetzt einen kurzen, intensiven Schmerz in Kauf zu nehmen, ziehen wir ein langes, dumpfes, schleichendes Unglück vor. Die Operation könnte heilen – aber wir fürchten den Schnitt.
Vom Opfer zum Entscheider
Dabei sind die Probleme nicht das Problem. Unsere Flucht vor ihnen ist das Problem. Wer Verantwortung übernimmt, macht sich nicht zum Opfer seiner Lebensumstände. Er macht sich zum Akteur. Das verlangt Mut – aber es ist die einzige Form von Freiheit, die wir wirklich besitzen: die Freiheit, zu entscheiden, wie wir auf das reagieren, was das Leben uns zumutet. Wir werden vom Opfer zum Entscheider. Und das ist ein gutes Gefühl.
Wir sollten uns nichts vormachen: Verantwortung ist kein Wellnessprodukt. Sie ist unbequem, sie tut weh, sie verlangt Veränderung. Aber sie ist auch der einzige Weg zu echter Wirksamkeit, Freiheit und Selbstbestimmung.
Es gibt keinen schmerzfreien Weg. Die Frage ist nur: Leiden wir jetzt ein wenig – aktiv, bewusst, verantwortlich? Oder leiden wir später – ohnmächtig, passiv, bitter? Der moderne Mensch hat verlernt, sich etwas zuzumuten. Er sucht Sicherheit, Bestätigung, Likes. Aber das Leben ruft nicht nach Bestätigung. Es ruft nach Entscheidung. Wer aufhört zu leiden, beginnt zu handeln. Und wer handelt, beginnt zu leben. Diese Entscheidung müssen wir uns immer wieder bewusst werden. Und das jeden Tag.